Kinder- und Jugendjahre in der Fabrik
Ein Zeitzeugenbericht von Wilhelmine Glas
Es war im März des heurigen Jahres, als mich unsere Gaby Eder anrief, sie hätte ein bemerkenswertes Manuskript von einer Frau Wilhelmine Glas aus Oberösterreich zugesandt bekommen. Mir sagte dieser Name nichts, aber als mir Gaby dann die 50 in Blockschrift beschriebenen Blätter zeigte, war ich sofort fasziniert davon. Eine Frau von 86 Jahren, die unsere Dorfzeitung in ihre Hände bekam und durch das Gedicht „Bombmdrichta“ von Gaby inspiriert wurde, ihre Lebenserin nerungen aufzuschreiben, so etwas ist sicher nicht alltäglich! Seite für Seite begann ich zu verschlingen, fasziniert davon, dass es heute noch jemanden gibt, der das Geschehen aus der Zeit des Bombenkrieges fast minutiös aufzeichnete und das noch in einem Schreibstil, den man fast 1:1 in unsere Zeitung übernehmen kann. Auch genau beschriebene Fotos lagen bei, die Frau Glas unter Lebensgefahr nach den Bombenabwürfen in der Fabrik machte - und sie war so raffiniert, diese erst nach dem Krieg entwickeln zu lassen!
Wilhelmine Glas schrieb für unsere Zeitung nicht nur über den Bombenkrieg, sondern ließ weitere 50 Seiten über ihre Kindheit folgen, dazu erhielten wir vor kurzem 30 Seiten über ihre Flucht nach Oberösterreich. Wir beginnen mit diesem Heft ihre Aufzeichnungen chronologisch zu veröffentlichen, wobei wir sie so weit als möglich unverändert lassen, d. h. sie spiegeln ausschließlich die Meinung und Empfindung von Frau Glas wider.
Gaby Eder fragte in ihrem preisgekrönten Gedicht:
„Ob de Leid mid de Golfschlega wissen, dass auf lauta grosse Lecha spüün?“
Ich glaube es nicht, aber „de Leid“ die in Moosbierbaum, Heiligeneich, Trasdorf oder Zwentendorf leben könnte es interessieren, welch einen geschichtsträchtigen Boden der heutige Golfplatz zudeckt!

Unsere Vereinsführung zu Besuch bei Frau Glas in St. Florian bei Schärding am 18. Oktober 2006
Die „Fabrik“ wurde während des Ersten Weltkrieges von der „Skodawerke Wetzler AG“ in Moosbierbaum erbaut, in erster Linie zur Erzeugung von Nitroglyzerin, einem höchst explosivem Sprengstoff, der an den Kriegsfronten jedoch nicht mehr zum Einsatz kam, wie in dem Buch „Das Werden der Donau Chemie“ von Richard A. Richter aus Zwentendorf nachzulesen ist.
Bei der Umrüstung auf die Erzeugung von chemischen Artikeln nach dem Krieg wurden Beamtenhäuser erbaut, Meisterhäuser und Arbeiterwohnungen aus vorhandenen Objekten umgebaut. Für Stammpersonal war Strom, Wasser und Miete frei. Deren Gemeinde-, Schul- und Kirchenzugehörigkeit teilten sich die Gemeinde Trasdorf und Zwentendorf je nach Grundstücksanteil.
So kam es, dass etwa die Hälfte der schulpflichtigen Kinder der Werksbewohner in Zwentendorf, die andere in Heiligeneich eingeschult wurde. Die Hauptschule (Bürgerschule) wurde in Zwentendorf besucht, da in Heiligeneich nur eine Volksschule existierte.
Von unseren Eltern wurde uns Respekt vor den Lehrern und Gutes Betragen strengstens aufgetragen. Wir hatten Lehrer, Fachlehrer und Klassenvorstände, die uns einen enormen Reichtum an Wissen vermittelten, ohne fruchtlose Experimente und Irritationen. Wir wurden über wirtschaftliche Fehler aufgeklärt, jedoch ohne politische Tendenzen.
In Dankbarkeit erwähne ich die Namen, um ihre Erinnerung zu bewahren.
Volksschule:
Frl. Wawra (1.Kl.), Oberlehrer Köhler, Lehrer Stawars, Pfarrer Grießler.
Hauptschule:
Dir. Franz Rotter, Hr. Wallisch, Hr. Pölzl, Hr. Kirchmayr, Hr. Resch, Hr. Chaloubek, Frl. Czech (Französisch-Lehrerin).
Die Gewerbliche Fortbildungsschule verpflichtete zu einem Tag Schul- bzw. theroretischer Bildung in Tulln.
Zur Schule hatten wir 2 x 4 km zu traben. Langweilig war uns nie, dafür sorgten die Buben, die mit Schabernack ihre Aggressionen abbauen konnten; von Wind und Wetter wurden wir abgehärtet.
Zwei mal pro Woche hatten wir auch Nachmittagsunterricht und da waren wir in der Mittagspause einmal an der Donau, wo drei Zillen angebunden bzw. zusammengebunden waren. Wir Mädchen und Buben sprangen von Zille zu Zille. Einer, Wögerbauer Alois, sprang zu kurz, konnte jedoch die angepeilte Zille am Rand noch ergreifen, war aber bis zum Hals im Wasser. Wir halfen ihm, seine Winterkleider auszuwringen und liehen ihm, was wir entbehren konnten, zum Überziehen, denn es war ein wohl sonniger, aber kalter Wintertag. Nass saß er noch eine Schulstunde ab, denn wir hatten große Angst vor Strafe, wenn wir uns Erwachsenen anvertrauen. Glücklicherweise bekam er nur Schnupfen. Die Gefahr wurde uns später deutlich bewusst - Nichtschwimmer in der starken Strömung!
Im Frühling waren in der Au auf großen Flächen Schnee- später Maiglöckchen. Die schönsten und meisten befanden sich auf der eingezäunten, zum Betreten verbotenen Wiese gegenüber dem Schloss des Grafen Althann. Natürlich erspähte uns dort, beim Pflücken, Herr Direktor Rotter. Ihm entging nichts in- und außerhalb der Schule!
In der Fabrik kannten wir alle Winkel, Gräben und Gänge. Entdeckten die Buben Neues, erwarteten sie uns nach der Schule: „Kommt mit, wir - Harold Ernstl und Bruder Hansl, Dorn Karli, Schwetz Karli, Schöber Karli - haben einen neuen, unterirdischen Gang entdeckt!“ Wir Mädchen, Dorfmeister Eva, Riebauer Hedy, Brabetz Mitzi und ich, waren neugierig. Es waren trockene Überlaufkanäle an den Löschwasserteichen gegenüber der Betriebe Bleicherde und Versale. An den Schleusen mussten wir auf Anweisung bäuchlings durch und waren heilfroh, beim Ausstieg wieder Tageslicht zu sehen!
Die so genannten Nitroberge wurden Anfang der Zwanzigerjahre noch streng bewacht. Unbefugte, ganz besonders Kinder durften wegen eventueller Reste von Nitroglyzerin dort nicht hin. Eine kleine Menge davon bewirke eine heftige Explosion, warnte man uns. Aber der größere Anreiz neben dem Verbot waren die köstlichen Brombeeren dort, überreif und süß, warteten sie aufs Gepflücktwerden. Die Älteren unter uns lockten uns dorthin und wir wurden prompt von einer Wache gestellt, als unsere Häferl gerade voll waren. Ich weiß noch, dass ich so zitterte, dass die Hälfte der Beeren über den Häferlrand zu Boden hüpfte. Es blieb zu unserer Erleichterung bei einer Verwarnung.
Der Winter 1928/29 bescherte uns lange Zeit um die Minus 30 Grad Kälte. Für Schulen wurden Kälteferien angeordnet. Allein unterwegs nach Hause, von der Volksschule Heiligeneich, zwischen den Rollwagengeleisen gehend, fing ich beim „Pumpenhäusl“ (zwischen Casino und meinem Zuhause) vor Kälteschmerz zu brüllen und weinen an, dass Mutter mir entgegen lief.
Die Donau war kilometerlang zugefroren, das gestaute Eis sah bizarr aus. An Sonntagen wanderten hunderte Menschen über den Eisstoß zum gegenüberliegenden Ufer.
Die Straße vom Dreiertor bis Zwentendorf war damals eine wunderschöne Akazienallee, die einerseits Schatten spendete und mit duftender Blütenpracht erfreute, andererseits uns Schulkinder bei Gewittern, Blitz und Donner sehr verängstigte. Bei jedem Blitz machten wir das Kreuzzeichen und beteten „Jesus beschütze uns“. Es muss das Jahr 1932/33 gewesen sein, als Graf Althann alle diese Bäume und große Flächen seiner Augebiete schlägern ließ. Später angepflanzte junge Bäume verkümmerten.
Die Wirtschaftskrise wurde mehr und mehr spürbar.
DAS ZWEIERTOR
wurde nur früh, mittags und abends zweistundenweise geöffnet, um den Familien, die in der Fabrik wohnten, das Einkaufen von Bedarfsartikeln zu ermöglichen. In einer Tabaktrafik mit Schreibwaren gab es kleine Schokoladen-Likörfläschen von „Heller“, die bei uns Kindern als Belohnung und Betthupferl beliebt waren.
Herrn Benesch mit Frau wurde diese Monopol-Verkaufsstelle als Kriegsbeschädigtem angeboten. Er hatte eine Vollprothese am Bein und wenn er Wundschmerzen hatte, behalf er sich mit zwei Krücken. Das Ehepaar war in Erscheinung und Sprache hochkultiviert, was sicher die Ursache war, dass sie das Wohnen in Wien anstrebten.
Dann war da das ebenerdige, untermauerte, einer Baracke ähnliche Lebensmittelgeschäft der Herlinger Paula, einer alleinstehenden, 40 bis 50jährigen Frau, die mit unseren Hausfrauen im besten Einvernehmen auskam. Der Einkauf bei ihr war gleichsam der Besuch eines Kommunikationszentrums. Sie war Jüdin.
An der Straßenkreuzung Zwentendorf-Moosbierbaum und Dürnrohr - Zweiertor stand die Verkaufshütte für Lebensmittel von Herrn Pichler aus Dürnrohr. Sie war drei mal zwei Stunden geöffnet, wie das Zweiertor.
DAS EINSERTOR
wurde Anfang der Zwanzigerjahre streng kontrolliert. Portier war Herr Adolf Klinger, der spätere Bürobote. Über Besucher wurde Buch geführt mit Angaben der Person, das Wohin und wie lange man bleibt - aus Sicherheitsgründen.
Gegenüber - heute ein Laden für Golf-ausrüstungen - war die Wohnung von Ing. Meixner.
Den linken Flügel bewohnte Direktor Dr. Kerenyi, ein von seiner Art und Ausstrahlung der nobelste Herr, den ich jemals kennenlernen durfte! Sein schöne, von ihm über alles geliebte Frau verstarb nach langem Siechtum. Dr. Kerenyi hat sich nie wieder verheiratet. Seine ebenso schöne, liebenswerte Tochter Lola holte deren Tante Jo für die Studienjahre nach Wien, wo sich ihre Spur verlor. Herr Dr. Kerenyi hat (noch!) ein Ehrengrab auf dem Friedhof in Heiligeneich.
Daneben wohnte Dr. Streicher mit Frau und Sohn. Das Ehepaar zog nach Langmannersdorf, während ihr Sohn Viktor bei der Wehrmacht war. Heute ist in diesem Flügel das Golfplatz-Restaurant.
Im rechten Flügel, 1. Stock, wohnte zuerst Direktor Dr. Möhring mit Frau und Sohn Gustav (gefallen in Russland). Nach der Okkupation Österreichs und Umbenennung auf den Namen „Ostmark“ kam als Werksdirektor Dr. Rainer in diese Wohnung. Er war Kärntner. Seine schöne Frau von zarter Konstitution brach unter ständigen Schwangerschaften und Geburten fast zusammen. Herrn Dr. Rainer wurde alsbald eine für ihn überschaubarere Aufgabe in seinem Heimatgau Kärnten übertragen.
Ihm folgte Direktor Dr. Dr. Friedrich Henning aus Hannover, ein in Technik, Chemie und im Kaufmännischen kompetenter, charaktervoller, hochgeachteter, parteiloser Mann. Er blieb der letzten, noch betriebsverpflichteten kleine Schar an Spezialarbeitern selbstlos bis zum bitteren Ende treu und blieb, bis sie alle über die wieder errichtete österreichisch-deutsche Grenze unbehelligt nach Hause kamen. (Zwei Jahre später kam er an einem unbeschrankten Bahnübergang nahe eines kleinen Tiroler Ortes in seinem Auto an der Seite seiner Frau ums Leben). Man sollte auch ihn in Moosbierbaum nicht vergessen!
Im Parterre dieses Flügels wohnte Oberingenieur Rabas mit Tochter Ruth, in zweiter Ehe verheiratet mit einer Schwester der Gattin von Ing. Dautzenberg. Beide waren Töchter von Frau Leithner.
Im Kasinogebäude wohnte auch Herr Groß mit Frau, das Ehepaar Prestak mit Sohn und Familie Habla mit Tochter Anni (jetzt in einem Altenwohnheim in Krems) und Sohn Walter, der in der Offiziersschule in Wr. Neustadt Karriere machte, aber noch jung an Jahren Selbstmord beging.

Ehemaliges Kasino, heute Klubhaus des Golfklubs
Ein Zimmer war dem Kurier der Firma, Franz Weichselberger, reserviert, der täglich Post von Moosbierbaum nach Wien und umgekehrt beförderte und an Freitagabenden und am Ultimo eines jeden Monats mit nur einer Begleitperson Löhne und Gehälter (in bar!) von der Firmenzentrale in Wien mit dem Zug fahrend nach Moosbierbaum beförderte.
Die übrigen Einzelzimmer waren je nach Bedarf belegt. Als Betreuerin und Organisatorin war Mitzi Schneider, jung, sehr hübsch und immer adrett gekleidet, nicht wegzudenken aus diesem Haus, dessen hinteres Gebäude leider abgerissen wurde. (Mitzi Schneider ist übrigens Frau Maria Brandstetter aus Heiligeneich, die Tante von Gaby Eder!).
Wird fortgesetzt
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